Finanzielle Inklusion - Ein Weg aus der Armut?
Die Debatte über das entwicklungspolitische Instrument der finanziellen Inklusion, dem Zugang zu Finanzdienstleistungen für wirtschaftlich benachteiligte Menschen, ist in den letzten Monaten lebhaft geführt worden. Die Autorinnen verfolgen sie seit Jahrzehnten. Seit Mohamad Yunus im Jahr 2006 der Friedensnobelpreis für die von ihm in Bangladesch gegründete Grameen Bank verliehen wurde, gehen die Meinungen über finanzielle Inklusion weit auseinander. Befürworter*innen sehen darin ein Instrument, das Armut verringern oder sogar abschaffen kann. Kritiker*innen sprechen von einem neoliberalen, kapitalistischen Werkzeug, das Menschen weiter in die Armut treibt. Doch welche wissenschaftlichen Ergebnisse gibt es dazu? Es ist Zeit für einen Blick in zwei breit angelegte Studien.
97 Studien unter der Lupe – die CGAP-Focus-Note
CGAP ist die Kurzbezeichnung der Consultative Group to Assist the Poor (Deutsch: Beratungsgruppe zur Unterstützung der Armen). Die internationale Denkfabrik mit Sitz in Washington D.C. wird von rund 30 Staaten, staatlichen Entwicklungsagenturen, Banken und Stiftungen getragen. Im Jahr 2019 veröffentlichte die CGAP die Studie „Emerging Evidence on Financial Inclusion: Moving from Black and White to Color“. Das 25-seitige Papier ist eine so genannte Meta-Studie, die 97 Studien aus aller Welt zum Thema finanzielle Inklusion aus den Jahren 2014 bis 2019 auswertet. Folgende übergreifende Erkenntnisse liefert die CGAP-Focus-Note:
- Wirkungsvolle finanzielle Inklusion ist mehr als die Vergabe von Mikrokrediten. Der Zugang zu Sparkonten gehört dazu, ebenso wie der Zugang zu (Mikro-)Versicherungen und zu “Mobile Money” (Finanzdienstleistungen über die Nutzung von Mobiltelefonen). Es genügt nicht, Menschen vermehrt den Zugang zu einfachen Bankkonten zu ermöglichen, dies hat keinen nachweislichen Effekt auf den Wohlstand eines Landes.
- Positive volkswirtschaftliche Wirkung. Es gibt in Studien zunehmend Belege dafür, dass ein breitgefächertes inklusives Finanzwesen zum Wirtschaftswachstum und zu einer Reduzierung von Armut beitragen kann.
- Der Zugang zu Finanzdienstleistungen macht widerstandsfähig. Mehrere Studien belegen, dass Haushalte mit Zugang zu Finanzdienstleistungen besser mit Krisen wie z.B. Naturkatastrophen, Krankheiten oder Ernteausfällen umgehen können – ohne dass sie ihren Lebensstandard drastisch einschränken müssen und ohne dass ihre Ernährungssicherheit gefährdet wird.
- Stärkung von Frauen mit cleveren Finanzprodukten. Es fehlen noch umfassende Studien zur Wirkung auf das Empowerment von Frauen. Einige Publikationen stellen jedoch folgendes fest: Wenn Finanzdienstleistungen Privatsphäre und Vertraulichkeit gewährleisten, können sie die Verhandlungsposition von Frauen und die Machtdynamik in Haushalten positiv beeinflussen.
- “Mobile Money” hat gemischte Effekte. In manchen Fällen wurde durch den Einsatz von mobilen Finanzdienstleistungen eine Reduzierung von Armut nachgewiesen, andere Fälle stellten eine Schwächung von wichtigen sozialen Netzwerken fest.
INEF-Studie: „Mikro“finanzierung in Kambodscha
Die vom BMZ, dem deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in Auftrag gegebene Studie des Duisburger Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) beschäftigt sich mit der Wirkung von Finanzdienstleistungen. Diese Studie wurde 2022 veröffentlicht und betrachtet ausschließlich Kambodscha. Das südostasiatische Land verzeichnete seit den frühen 2000er Jahren einen starken Anstieg von Kreditangeboten. Die Studie unter Leitung von Prof. Frank Bliss befragte 1.388 Haushalte in 24 Dörfern. Insgesamt ergibt sich ein komplexes Bild, das wir hier zusammenfassen:
- Der Kreditsektor in Kambodscha ist weitestgehend gesättigt. Es gibt einen formellen Sektor und einen informellen Sektor und viele unterschiedliche Akteure: Banken, Mikrofinanzinstitutionen, “Rural Credit Institutions” sowie private Geldverleiher und Pfandleihhäuser.
- Verantwortungsvolle Anbieter überprüfen die Rückzahlungsbefähigung der Kreditnehmer*innen gründlich. Laut der Studie ist dies nicht bei allen Anbietern der Fall. Manche vergeben “ungeprüfte” Kredite, was zur Überschuldung führen kann. Nur eine genaue Prüfung des “cash flows”, also der Einnahmen und Ausgaben der Beantragenden, kann gewährleisten, dass eine Rückzahlung möglich ist.
- Eine verantwortungsvolle Finanzierung dient einkommensschaffenden Maßnahmen. Die Studie zeigt, dass in Kambodscha ein “beachtlicher Teil” der Kredite nicht für den Auf- und Ausbau wirtschaftlicher Aktivitäten genutzt, sondern für die Finanzierung nicht gedeckter Lebenshaltungskosten verwendet wird. Das Überschuldungsrisiko ist hierbei groß.
- Überschuldung muss in jedem Fall vermieden werden. Laut INEF-Studie könnten Schuldner*innen sonst genötigt sein, ihr Land zu verkaufen, um die Schulden zu tilgen.
Die INEF-Studie sieht für Kambodscha dringenden Handlungsbedarf und spricht wertvolle Empfehlungen aus: Gesetzliche Regulierungen des Finanzmarktes mit strengen Kreditprüfungsrichtlinien, Verbot von Haustürwerbung, Erlaubnis einer Absicherung mit Landtiteln erst ab einer Kredithöhe von 2000 Dollar und die Möglichkeit des Rücktritts aus Kreditverträgen.
Hörtipp: Mit der Situation in Kambodscha beschäftigt sich der empfehlenswerte 19-minütige Radiobeitrag im Deutschlandfunk “Mit Geld aus der Armut. Was Mikrokredite leisten können”.
Inklusives Finanzwesen – Licht und Schatten
Verantwortungsvolle Investoren wie zum Beispiel Oikocredit, Invest in Visions oder die GLS Investments arbeiten mit sorgfältig ausgewählten Partnerorganisationen zusammen, die sich zu einem strengen Kund*innenschutz verpflichten. Gemeinsames Ziel ist, die Lebensqualität einkommensschwacher Menschen nachhaltig zu verbessern. Die positiven Wirkungen eines verantwortungsvollen Finanzwesens hat die Auswertung von fast 100 Studien der CGAP-Focus-Note gezeigt. “Gutes Geld” trägt zur Widerstandsfähigkeit von Haushalten bei. Es stärkt Frauen, fördert wirtschaftliches Wachstum und reduziert Armut. Angesichts der Problematik in Kambodscha überrascht es fast, dass die große Mehrheit der Befragten der INEF-Studie den laufenden Krediten “eine gute, vor allem ökonomische, Wirkung” zuspricht. 82,3 Prozent sprechen von einer positiven oder eher positiven Wirkung der Kredite, 16,2 Prozent von einer negativen oder eher negativen Wirkung.
Das inklusive Finanzwesen steht vor großen Herausforderungen, das ist unumstritten. Es ist mittlerweile ein umkämpfter Markt, in dem sich Anbieter tummeln, die auf schnellen Gewinn aus sind und keine Rücksicht auf die Folgen für die Kund*innen nehmen. Deshalb müssen Fehlentwicklungen kritisch beobachtet und Empfehlungen, wie die der INEF-Studie, in die Tat umgesetzt werden. Zusammen mit der staatlichen Regulierungspolitik setzen sich Investorinnen wie die Genossenschaft Oikocredit seit vielen Jahren für eine wirksame Regulierung des gesamten Kreditsektors ein, die vielen Menschen zugutekommen würde.
von Ute Stefanie Haak, Dr. Christina Alff
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