Indien - Der springende Elefant
Die dreiteilige Strategie Indiens zur Förderung der finanziellen und sozialen Inklusion ermöglicht es Mikrofinanzinstitutionen, ihre Kundschaft schneller und mit weniger Risiken zu bedienen. Das ist der digitale Wandel in Aktion, sagt Ulrike Haug.
In Indien ist eine digitale Revolution im Gange, die die Art und Weise verändert, wie Oikocredit und ihre Partnerorganisationen einkommensschwache Gemeinschaften bedienen. Davon konnte sich eine Gruppe von 15 Ehrenamtlichen und Mitarbeitenden aus Oikocredit-Förderkreisen während einer einwöchigen Studienreise im Dezember 2023 überzeugen.
Bei Studienreisen erfahren die Teilnehmer*innen aus erster Hand, wie die Finanzierungen von Oikocredit das Leben von wirtschaftlich benachteiligten Menschen verbessern.
Ulrike Haug, zuständig für Globales Lernen und Advocacy bei Oikocredit International, hat die Gruppe begleitet. In diesem Beitrag berichtet sie, was ihr besonders in Erinnerung geblieben ist: Die Geschwindigkeit und das Ausmaß, in dem Indien eine digitale Zukunft anstrebt.
Bargeld hat seine Bedeutung verloren
Es ist der zweite Tag unseres Besuchs in Bengaluru (ehemals Bangalore) und unsere Kolleg*innen vom Förderkreis haben gerade ein Gespräch mit Hardika Shah beendet. Sie ist die Geschäftsführerin und Gründerin des Oikocredit-Partners Kinara Capital, einer Finanzinstitution, die Kredite an kleine und mittlere Unternehmen vergibt.
Bevor wir uns auf den Weg machen, um mehrere Kinara-Kund*innen zu besuchen, wollen wir die frischen Kokosnüsse probieren, die an einem kleinen Stand direkt vor dem Büro von Kinara verkauft werden. Wie wir in den letzten Tagen gelernt haben, brauchen wir gar nicht erst versuchen, den Verkäufer in bar zu bezahlen. Denn die meisten Zahlungen werden in Indien heutzutage digital abgewickelt. Ein Kinara-Mitarbeiter scannt einen QR-Code auf seinem Handy, gibt den Betrag ein und bestätigt ihn mit einem Klick. Eine akustische Bestätigung teilt dem Verkäufer mit, dass die Transaktion erfolgreich war.
QR-Codes sind in Indien allgegenwärtig. Jede*r Straßenhändler*in, jedes Geschäft und jedes noch so kleine Unternehmen hat einen. Auch im Büro unserer nächsten Interviewpartnerin, Kinara-Endkundin Rukmini R., sehen wir einen QR-Code. Sie betreibt ein kleines Unternehmen, das Pappteller herstellt, die sie an verschiedene Händler verkauft. Diese bezahlen sie digital vor Ort, indem sie einen QR-Code scannen, und der Betrag wird sofort auf ihr Bankkonto überwiesen. Mehr zu Rukmini R. in diesem Video.
Es fühlt sich an, als wären meine früheren Besuche in Indien, der letzte vor nur fünf Jahren, Besuche in einem anderen Land gewesen. Indiens Wirtschaft wurde von manchem als "langsam trudelnder Elefant" bezeichnet, aber dieser Elefant weiß, wie man Bocksprünge macht.
Die digitale Revolution in Indien verändert nicht nur, wie die Menschen bezahlen und Bankgeschäfte abwickeln, sondern auch wie sie auf staatliche Dienstleistungen zugreifen, Sozialleistungen empfangen oder Geschäfte tätigen.
Dieser Wandel hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Arbeit unserer Oikocredit-Partnerorganisationen. Sie sind in der Lage, ihre Kundschaft schneller zu bedienen und dank besserer Einblicke ihre Risiken zu verringern.
Handys, digitale Ausweise und Bankkonten für fast alle
Die ganze Nation scheint digital unterwegs zu sein: 1,2 Milliarden von 1,4 Milliarden Einwohner*innen haben ein erschwingliches Mobiltelefon mit Internetzugang zu niedrigen Tarifen. Dies bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass alle Handybesitzer*innen gleichermaßen davon profitieren, denn die (digitale) Alphabetisierung ist immer noch ein Problem. So ist beispielsweise ein Drittel der Frauen, die ein Mobiltelefon besitzen, nicht in der Lage, Textnachrichten zu lesen.
Zahlungen werden größtenteils über Mobiltelefone mit Hilfe der sogenannten Unified Payments Interface (UPI) getätigt. Diese 2016 eingeführte Schnittstelle für Sofortzahlungen ermöglicht Überweisungen zwischen Bankkonten in Echtzeit und ohne Kosten.
Vor zehn Jahren hatte fast die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu formellen Bankdienstleistungen, oft weil sie sich die Mindesteinlage nicht leisten konnten, die früher für die Eröffnung eines Bankkontos erforderlich war. Im Jahr 2014 führte die indische Regierung das Jan-Dhan-Bankkontenprogramm ein, dank dessen inzwischen mehr als eine halbe Milliarde Menschen ein kostenloses Bankkonto eröffnen konnten.
Der Vorteil eines Bankkontos ist, dass Menschen mit geringem Einkommen staatliche Subventionen direkt auf ihr Konto ausgezahlt bekommen. Früher wurden diese Sozialleistungen in bar ausgezahlt. Unsere Gesprächspartner*innen berichten uns, dass in der Regel ein Teil des Geldes verschwand, bevor es die Empfänger*innen überhaupt erreichen konnte.
Das dritte Element der digitalen Revolution in Indien ist Aadhaar, ein Identifikationssystem, das auf biometrischen Daten und Fotos basiert. Vor seiner Einführung im Jahr 2009 besaß schätzungsweise die Hälfte aller Inder*innen keinen landesweit anerkannten Personalausweis. Seither sind fast 1,4 Milliarden Aadhaar-Ausweise ausgegeben worden. Die Karten können auch mit einem Smartphone verbunden werden, wodurch ein digitaler Ausweis entsteht. Mit einem Aadhaar-Ausweis ist die Eröffnung eines Bankkontos oder der Zugang zu digitalen Dienstleistungen viel einfacher und schneller geworden.
"Die JAM-Dreifaltigkeit - Jan Dhan, Aadhaar, Mobile - hat das Tempo der digitalen finanziellen Inklusion in Indien erheblich beschleunigt", sagt Anil Gupta von der Beratungsfirma Microsave. In einer Einführungsveranstaltung zu Beginn der Studienreise erklärte er uns das Konzept des "India Stack". Er besteht aus mehreren Schichten digitaler Infrastrukturkomponenten. Verschiedene Regierungsbehörden stellen Open-Source-Programmierschnittstellen zur Verfügung. Diese können genutzt werden, um Softwarelösungen zu entwickeln, die auf digitale Ausweise und andere Daten zugreifen können. Das Ziel: Die Förderung von bargeldlosen, papierlosen und präsenzlosen Dienstleistungen, um die finanzielle und soziale Inklusion voranzutreiben.
Ein Wendepunkt für die finanzielle Inklusion und für unsere Partner
Hardika Shah erklärt, wie India Stack die Arbeitsweise von Kinara Capital verändert hat: "Heutzutage ist der Kreditantragsprozess vollständig digitalisiert und dauert nur 24 Stunden. Vor India Stack waren mehrere Personen an den verschiedenen manuellen Schritten und Checks beteiligt. Wir haben 10 Tage gebraucht, um einen Kreditantrag zu bearbeiten."
Potenzielle Kund*innen erteilen Kinara jetzt die Erlaubnis, auf ihre digitalen Daten zuzugreifen, was die Identitäts- und Auskunftsprüfungen automatisiert und beschleunigt. Mit der Berechtigung zur Einsicht in die Steuererklärungen kann Kinara das Einkommen eines Unternehmens besser prognostizieren und sehen, ob es einen Kredit aufnehmen kann und in welcher Höhe.
"Wo wir keine Kompromisse machen, ist der persönliche Kontakt", sagt Hardika. "Unsere Kreditsachbearbeiter*innen besuchen alle potenziellen Kund*innen vor Ort, um mit ihnen ein ausführliches Gespräch zu führen, Daten wie den Cashflow zu überprüfen und die Aktivitäten des Unternehmens mit unseren Ausschlusslisten abzugleichen. Dann berechnen wir die Risiken eines Darlehens an dieses Unternehmen. Wenn diese akzeptabel sind, wird die Kreditentscheidung getroffen und das Angebot an den/die Kunden/Kundin geschickt." Auch während der Kreditlaufzeit besuchen die Mitarbeitenden von Kinara regelmäßig ihre Kund*innen. Darüber hinaus bietet Kinara kostenlosen monatliche Webinaren zur Weiterbildung ihrer Kund*innen an, zum Beispiel zu Themen wie ‚Marketing über Social Media‘.
Mikrofinanz-Mitarbeitende: Alles wird per Smartphone erledigt
Wie sehr die digitale Entwicklung die Arbeit der Mikrofinanzpartner von Oikocredit verändert hat, zeigt sich auch am nächsten Tag, als wir Initiatives for Development Foundation Financial Services (IDFFS) besuchen. Die Mikrofinanzinstitution bietet Kredite und Versicherungsprodukte für Frauen an, hauptsächlich über Gruppen. Wir treffen eine solche Gruppe in der ländlichen Gegend von Tumkur, ein paar Autostunden nördlich von Bengaluru.
Wir lernen Bhagyas kennen, die für die Mikrofinanzorganisation Gruppen in zehn verschiedenen Dörfern betreut. Sie besucht jede Gruppe einmal im Monat, um die Kreditrückzahlungen einzusammeln. Sie zeigt uns, wie Technologie ihr hilft, die Beziehungen zu ihren 430 Kund*innen zu pflegen. So kann sie zum Beispiel über die App der Mikrofinanzorganisation auf die Datei jeder Frau zugreifen und die Rückzahlungen des Tages protokollieren. Baghyas hat einen kleinen Drucker, der für jede Frau eine Quittung über die Rückzahlung ausdruckt.
Der kleine Drucker verfügt auch über einen Fingerabdruckscanner, der bei der Registrierung neuer Kundinnen eingesetzt wird und die Identitätsprüfung über das Aadhaar-System schnell und einfach macht. Es ist beeindruckend zu sehen, wie die Technologie bei der Aufnahme von Kundinnen, der Erstellung ihrer digitalen Akte und der Verwaltung von Rückzahlungen eingesetzt wird – und das alles über das Smartphone der Mitarbeitenden.
V.N. Salimath, Gründer von IDFFS, erklärt: "Das India Stack-System hat uns sehr geholfen. Früher brauchten wir 15-20 Tage für die Prüfungen und das Antragsverfahren, jetzt sind es nur noch sechs. Die Frauen erhalten das Geld zwei Tage nach der Genehmigung durch unsere Niederlassung. Ich gehe davon aus, dass in einigen Jahren die meisten unserer Kundinnen ihre Kredite digital zurückzahlen werden."
Indiens digitale Revolution: Wer profitiert davon?
Im Laufe der Woche haben wir erfahren, wie digitale Lösungen es unseren Partnerorganisationen ermöglichen, ihren Kund*innen bessere und schnellere Dienstleistungen zu bieten. Laut dem Berater Anil Gupta profitiert auch die Regierung, obwohl sie viel in die Initiativen investiert und viele digitale Dienste kostenlos anbietet.
"Durch die Formalisierung der informellen Wirtschaft werden die Steuereinnahmen steigen. Außerdem sinken die Kosten einer bargeldbasierten Wirtschaft, wie etwa das Drucken von Rupienscheinen", sagt er. Auch die Auszahlung staatlicher Sozialleistungen direkt auf Bankkonten der Empfänger*innen senkt Verwaltungskosten.
Wir haben erfahren, dass es rechtliche Grenzen bei der Verwendung digitaler Daten gibt und die Menschen zustimmen müssen, damit Unternehmen auf ihre Daten zugreifen können. Dennoch fragen wir uns in unserer Gruppe, welche Risiken mit der Sammlung großer Datenmengen durch staatliche Stellen und Unternehmen verbunden sein könnten.
Diese Frage stellen wir am letzten Tag der Studienreise, als wir erneut unsere Kolleg*innen treffen, die in zwei weiteren Gruppen andere Partnerorganisationen in Pune und Hyderabad besucht haben.
Mohua Mukherjee, Vorsitzende der indischen Oikocredit-Tochtergesellschaft Maanaveeya, erläutert den Zusammenhang: „Wenn Sie die Menschen fragen, werden sie Ihnen wahrscheinlich sagen, dass sie sich nicht an Datenschutzfragen stören. Für sie überwiegen die Vorteile bei weitem die möglichen Risiken".
Ich für meinen Teil bin neugierig darauf, wie sich die digitale Landschaft weiterentwickeln und Indien sich dadurch weiter verändern wird - und wie andere Länder davon lernen können. Ich hoffe, dass ich dieses faszinierende Land wieder besuchen kann, um die kommenden Veränderungen mitzuerleben.
Wenn Sie noch mehr Einblicke zu Indien bekommen möchten, können Sie hier einen weiteren Beitrag von Thomas Eisele zur Studienreise lesen.
Quellen/Weitere Lektüre:
- Gespräche mit Oikocredit-Mitarbeiter*innen und -Partnerorganisationen in Indien
- The India Stack: opening the digital marketplace to the masses (ft.com)
- Jan Dhan Yojana revolutionised financial inclusion in India: The Hindu
- Indien: Land im Aufbruch - brand eins online
- India is a ‘slow trundling elephant’ but a viable alternative to China: (cnbc.com)
- The India Stack is Revolutionizing Access to Finance - IMF F&D
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